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Am liebsten würde ich Sie, liebe Leserinnen und Leser, in einen Bus stopfen und dann nach Münster fahren um dort das örtliche Theater zu besuchen.

Dort erlebte ich gestern Abend einen der geistig befruchtendsten und elektrisierendsten Theaterabende meines Leben. Es war die Premiere eines Stückes, das so höchstaktuell ist wie keines, das ich je zuvor gesehen haben und das demonstriert, wie ungemein bereichernd Theater sein kann, wenn ein Schauspielhaus bereit ist, schnell zu handeln.

„La Révolution #1 – Wir schaffen das schon“, heißt das Stück des Franzosen Joel Pommerat. In unserem Nachbarland läuft es unter dem Titel „Ca Ira (1) – La fin de Louis“ und hat dort seit seiner Premiere (wenige Tage nach den Anschlägen von Paris im Herbst 2015) hohe Wellen geschlagen. Mit was? Mit Recht.

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Das Stück beschreibt die ersten Jahre der französischen Revolution bis kurz vor den Tod Ludwig XVI. Was fehlt: historische Kostüme, pudrige Perücken, lüstererleuchtete Spiegelsäle auf, zerlumptes Volk und Sprache im Molière-Stil. Alles ist in die heutige Zeit verlegt, bis hin zur Kommunikation über Handy („Hat jemand Netz?“, fragt eine der Figuren). Auch sind abgesehen vom König keine konkreten, historischen Figuren erkennbar.

Das klingt nach gezwungener Heutigkeit, ist es aber nicht. Denn die Themen sind die, die uns in diesen Monaten bewegen: Teilung der Gesellschaft, Arroganz der Macht, die Frage, Bedeutung von Grundrechten, Rolle und Größe eines Staates, die Frage, wann Gewalt legitim ist, um Ordnung zu erhalten…

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Hätte sich Pommerat all dies ausgedacht, man müsste ihm vorwerfen, sich zu sehr an die Situation des Jahres 2017 anbiedern zu wollen. Doch wir alle haben die Grundlagen des Geschehens in der Schule gelernt. Doch bezieht Pommerat nie eindeutig Stellung, ähnlich wie Houellebecqs „Unterwerfung“ ist eine Interpretation in jede Richtung möglich. Nicht einmal Ludwig XVI. ist als Bösewicht festzunageln.“La Révolution“ wirkt schockierend zeitgemäß, denn der Betrachter weiß ja, wie das alles enden wird. Weshalb der deutsche Titel, angelehnt an das Angela Merkel-Zitat, so ungemein böse gewählt ist – mehr zu verraten wäre aber schwerer Spoiler-Alarm.

Doch da ist noch mehr. Die gesamte Zeit (in Münster dreieinhalb Stunden inklusive Pause) waren wir das, was der Amerikaner „on the edge of the seat“ nennt und kein deutsches Wortbild so schön beschreibt. Das Stück löst die Trennung zwischen Bühne und Zuschauerraum, die Besucher sind mitten drin in der Revolution und in der Nationalversammlung. Einerseits verläuft ein langer Steg durch den Saal, andererseits sitzen Schauspieler im Publikum, immer wieder andere, immer wieder auf anderen Plätzen. Und sie sind die Abgeordneten der Versammlung, rufen dazwischen, sprechen die Besucher an als Mitglieder der Versammlung. Selbst auf ihren Handys läuft die Revolution: Sie chatten über Whatsapp (ob mit dem Nachwuchs oder ob es sich um echte Stück-bezogene Nachrichten handelt, konnte ich nicht ausmachen).

Es passiert das, was wir aus Fußballstadien oder Konzertarenen kennen: Die Emotion der Menschen neben uns steckt uns an. Der Puls geht hoch, Adrenalin schießt ein. Ich habe im Laufe der Jahre viele, tolle Theaterabende gehabt, spannende und berührende. Doch einen derartigen psychologischen Kick erlebt ich nie zuvor.

Selbst die Pause diente kaum der Erholung. Der erste Teil endet mit der Ankündigung, der König spreche zur Nationalversammlung – im Foyer. Genau das passiert dann. Die Besucher stehen mit mit Wasser, Bier oder Wein (Münsters Theater hat übrigens eine lobenswerte, kleine Weinbar zu bieten) im Foyer – und auf der kleinen Bühne dort spricht der König.

In der Einführung am Beginn des Abends erzählte Schauspiel-Direktor Frank Behnke, man gehe ein gewisses Risiko ein. Ein Artikel in der „NZZ“ (vermutlich dieser) habe ihn auf „Ca Ira“ aufmerksam gemacht. Er habe es in Lille gesehen und noch bevor eine deutsche Übersetzung erhältlich war beschlossen, dass man es nach Münster bringen wolle. Auch in Dortmund und Bamberg wird „La Révolution“ in dieser Spielzeit zu sehen sein, allerdings in den kleineren Bühnen beider Häuser.

Ich kann nicht glauben, dass sich dort eine ähnliche Dynamik einstellt, wie im Großen Haus in Münster. Das erinnert in seiner Moderne (für mich eines der schönsten Theater Deutschlands) ja ohnehin schon an eine Art Parlament mit violetten Sitzen, doch durch die schlichte Holzwand im Hintergrund der Bühne wird dieser Effekt noch betont.

Seit Jahrzehnten sehe ich in Münster immer wieder Aufführungen mit einem Esprit und einer Power, die größere, finanzstärkere Häuser übertrifft. Erst recht das, was seit zu langen Jahren in Düsseldorf zu erleben ist. Doch diese Aufführung… Derart aufgewühlt habe ich selten ein Theater verlassen. Und anscheinend waren wir nicht allein: Sekunden nach Ende des Stücks gab es Standing Ovations und Bravo-Rufe.

Und deshalb, liebe Leserinnen und Leser, würde ich Sie so gerne alle nach Münster versenden. Leider geht das nicht. Aber ich bin mir sicher: Sie schaffen das auch ohne mich.

Weitere Termine von „La Révolution #1 – Wir schaffen das schon“ gibt es unter diesem Link. 


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