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Wer einen Mitarbeiter von Spiegel Online sauer erleben will, der wirft seinem Arbeitgeber vor, ein Boulevard-Medium zu sein. Die meisten aus der Redaktion werden sich dagegen empören und darauf verweisen, dass sei doch die „Bild“, das mit dem Boulevard.

Tatsächlich aber wendet Spiegel Online – und genauso viele, viele andere Online-Medien – Techniken des Boulevard an. Ein aktuelles Beispiel ist die Story „Das Rätsel des braunen Wirtshauses„. Hier wird mit dem wilden Rühren im Gerüchtekochtopf versucht ein Zusammenhang zwischen der ermordeten Polizistin und den rechten Terroristen zu erzeugen. Mit journalistischer Sorgfalt hat das wenig bis gar nichts zu tun.

Und natürlich ticken Blogs oft nicht anders. Zumindest die Überschrift soll den Leser direkt packen, am besten ist sie nicht länger als vielleicht 100 Zeichen – dann kann sie auf Twitter Leser anlocken. Wir, die wir viel im Internet schreiben, wissen auch, auf welchem Weg wir unsere Leser versammeln können. Wenn bei Netzpolitik über einem Text „… wir fangen dann schon mal an“ steht, erreicht dieser wunderbar die Klientel der Digital-Rebellen, denen der Fortschritt nicht schnell genug geht. Wenn das Google Watchblog „In 4 Schritten zu…“ titelt, erreicht es jene Marketing-Verantwortlichen, die mal schnell einen Sachverhalt erklärt haben möchten. Und, nein, ich nehme mich und die Indiskretion da überhaupt nicht aus. Diese Art zu texten ist nicht neu, sie hat ihre Wurzeln im Boulevard-Journalismus.

Womit wir bei Facebook wären. 

In den USA startet das Netzwerk nun das „frictionless sharing“, wie es Mark Zuckerberg so höflich bezeichnete. Wer dort bestimmte Facebook-Anbindungen verwendet, teilt seinen Kontakten beständig mit, was er tut. So sendet die App des Musikdienstes Spotify beständig die Songs, die ein Nutzer sich vorspielen lässt.

Einerseits klingt das bequem. Eine ganze Reihe von Menschen teilt ja ständig via Social Media mit, was sie hören, sehen, schmecken. Das ist keine Belästigung, sondern wird von denen, die sie mitlesen als angenehmer Informationsfilter empfunden. Wer aus dem Kino kommt, teilt seine Sicht über den Film – andere diskutieren mit oder bedanken sich für die Kurzkritik. Dieser soziale Filter ist ein besserer Gradmesser dafür, ob mir ein Buch, ein Album oder ein Restaurant gefällt als das Urteil eines Journalisten.

Die Automatisierung dieser Funktion nimmt zunächst einmal die Emotion aus diesem Vorgang. Denn wer solch einen Tweet, Status-Update oder Kommentar abgibt, der tut dies bewusst. Er investiert eine kleine Menge Zeit und überlegt einen Moment, was er da schreibt. Passiert dies automatisch, so verkommt das Teilen zur lapidaren Datenversendung.

Noch dazu steckt dahinter die falsche Vermutung. Es ist der Glaube, dass weil jemand eine bestimmte Handlung vornimmt, er mit dem Ergebnis dieser Handlung zufrieden sein wird. Nur: Das ist Unsinn. Bevor ich einen Film nicht gesehen habe, weiß ich nicht, ob er mir gefällt. Nur, weil ich ein Restaurant besuche heißt das nicht, dass es mir dort schmeckt. Und vielleicht höre ich einen bestimmten Song nur, um eine Textpassage mitzuschreiben – aber nicht, weil mir das Lied gefällt. Diese nötigen Erklärungen um die reine Tat von einer Empfehlung abzugrenzen erzeugt unnötige Arbeit.

Nun gibt es diese automatische Teil-Funktion auch für journalistische Angebote. Derzeit drängen der „Guardian“ und die „Washington Post“ US-Facebooker zur Nutzung ihrer App. Anschließend listet Facebook auf, welche Artikel eine Person gelesen hat. Wie dies genau aussieht, erklärte „Washington Post“-Chairman Don Graham – ein Mentor Mark Zuckerbergs wie in David Kirkpatricks empfehlenswerten Facebook-Buch zu lesen ist – wie das ganze aussieht:

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Somit erreicht der Boulevard die Viralität. Nun gilt es noch dramatischer zu texten als zuvor. Denn bisher erreiche ich durch eine reißerische Überschrift zunächst nur eine Person. Diese interessiert sich mutmaßlich zumindest ansatzweise für das Thema. Künftig aber erreiche mit diesem einen Lockvogel auch noch dessen Kontakte. Die sind an diesem spezifischen Thema vielleicht nicht interessiert – doch würden sie den Facebook-Hinweis als Empfehlung begreifen, locke ich sie ebenfalls auf meine Seite. Und jeder Klick bedeutet eine winzige Werbeeinnahme.

Ich befürchte: All das, was wir unter Klickhurerei verstehen, jene Flut aus kurzen Artikeln mit Weiterklick-Funktion, die elenden Bilderstrecken, die reißerisch angekündigten Nicht-Meldungen, wird zumindest in der ersten Zeit dieser App dramatisch zunehmen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass der Anfangseffekt der Funktion auf die Zugriffe der Nachrichtenseiten positiv sein wird. Und jeder Klick bedeutet ein paar Cent Einnahmen (womit wir natürlich wieder bei den falschen Maßstäben der Online-Werbung wären).

Die Frage ist: Was passiert langfristig? Entweder wir erleben Online noch mehr Boulevard als bisher. Oder die Facebook-Nutzer begreifen, dass die Automatisierung einer eigentlich gemeinnützigen Tätigkeit (großes Wort, ich weiß), nämlich dem Teilen wertvoller Informationen, diese Tätigkeit entwertet – und sie werden versuchen, die Apps abzuschalten (was, wir kennen Facebook, wahrscheinlich erst nach langer Sucherei möglich sein wird).

So oder so: Derzeit kann ich an dieser Funktion – so wie sie sich derzeit darstellt – nichts Positives erkennen.


Kommentare


Richard Gutjahr 22. November 2011 um 9:52

Interessante These. Zwei Einwände: Ich zweifle am Erfolg des Frictionless Sharings. Schon die wenigen Leute, die in meiner FB-Timeline die erwähnte Washington-Post-Funktion freigeschaltet haben, nerven wie Sau mit ihrem „Ich lese gerade…“ Frictionless-Spam. Dagegen waren die Mafia-Wars der reinste Streichelzoo (dt.=Farmville). Hinzu kommt: Zuviel Boulevard diskreditiert den Lesenden, der ja bekanntlich nie Dschungelcamp schaut, sondern Arte. Vielleicht ist es ja genau umgekehrt: Facebook fördert die Intellektualisierung des Online-Journalismus! Darüber werde ich noch ein bisschen nachdenken, gleich nach dem „10 vor 11“-Marathon von Alexander Kluge, den ich gerade schaue.

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Tim Koch 22. November 2011 um 11:51

Ich rechne ich mit eine ganz großen Aufschrei, wenn das Frictionless Sharing in Deutschland freigeschaltet wird, weil die Leute es vorher nicht ordentlich erklärt bekommen werden und dann geschockt sind, wenn plötzlich ihre Kontake lesen, welche Bilderstrecken sie sich gerade bei Bild oder sonstwo reinziehen. Und die Folge wird, wie Thomas schon erwähnte sein, dass man es abschalten wird oder auch ausblenden, denn das dürfte wirklich teilweise nervig sein.
Wird es aber vom User nicht angenommen, dann wird sich vielleicht auch keine große Veränderung im Online Journalismus einstellen. Ich meine bei vielen geht es ja eh nicht mehr viel bou­le­var­desker…

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teekay 22. November 2011 um 14:45

In meinem Netzwerk wird relativ viel Guardian gelesen. Bringt mir wenig, denn ich weiss jetzt, dass Freund X und Y morgens die wichtigsten/neuesten 10 Artikel anklicken-wie ich das halt auch machen wuerde. Das ist keine Mehrwert und keine Leseempfehlung sondern liest sich ein bisschen wie ein ‚best of‘ Newsfeed auf den ich auch verzichten kann (oder ich geh‘ halt auf die Webseite wie immer…). Ob das den Journalismus des Guardian beeinflussen wird weiss ich nicht, aber weniger ’serioese‘ Medien werden bestimmt ‚verfuehrt‘. Dann sind wir am Ende bei dem Twitter ‚RT is not endorsement‘ angelangt und ich kann mir entweder aussuchen ob mein Netzwerk ‚ernsthaft‘ Boulevard oder rechts/links etc. liest oder nur zur kritischen Bildung…oder ich blende das einfach aus ;)!

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Sebastian 22. November 2011 um 18:49

Ich habe neulich auf einem SEO-Stammtisch (also Nerds unter sich) über die neuen Facebook-Pläne diskutiert und selbst diese Extrem-Onliner-Gruppe fand Facebooks-Pläne beängstigend. Natürlich empfehle ich gerne Artikel, die ich gut finde. Aber nicht jeden Text, den ich lese, möchte ich gleich weiterempfehlen. Ich glaube, dass Facebook seine User damit eher abschrecken wird. Einfluss auf den Journalismus? Kaum, weil die Leute sicher nicht jeden Text empfehlen wollen. Unter Umständen wird Journalismus sogar weniger als aktuell auf Facebook setzen.

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Christoph Salzig 22. November 2011 um 19:30

Volle Zustimmung, Thomas. Auch ich bin davon überzeugt, dass Facebook mit der Integration dieser Funktion das Wesen der Social Media Preis gibt. Social Media belongs to people not to media! Ich glaube, dass Facebook auf diese Weise vom Empfehlungs- zum Beliebigkeitsnetzwerk mutiert, siehe auch http://bit.ly/suSExc

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Jason 23. November 2011 um 12:05

Man braucht sich nur mal den Spaß machen und sich die Top-Artikel der Medienseiten anschauen. Gemessen an der Verbreitung bei Twitter und Facebook. Dort ist Bild.de mit Abstand vor SPON. „Boulevard“ dominiert die Netzwerke. Wobei Facebook den größten Anteil daran hat. Einer der Top-Artikel von Bild.de (aktueller Monat) lautet „Sensations-Studie – Computerspieler haben mehr Hirn!“. Für Nutzer von Facebook scheint das nicht zu gelten.

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Oliver Springer 23. November 2011 um 14:32

Wer einen bewusst Link teilt, wählt bewusst aus. Er wägt hoffentlich ab, ob es klug ist, mit dem jeweiligen Thema in Zusammenhang gebracht zu werden. Oder er distanziert sich zumindest in einer Anmerkung zum Link in einer Weise, damit das Teilen nicht als Zustimmung missverstanden wird.

Können andere allerdings ungefiltert sehen, wofür man sich interessiert, geht einem diese Kontrolle verloren. Davon kann ich nur abraten.

Die These der weiteren Boulevardisierung ist interessant. Falls die neue Funktion gut von den Usern angenommen wird, könnte es tatsächlich den beschriebenen Effekt haben. Darauf würde ich aber nicht wetten. Das Nerv-Potenzial ist sehr hoch, daran dürfte es scheitern.

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Debatte zu Facebooks “Frictionless Sharing”: Differenzen über die Bedeutung von Daten » netzwertig.com 24. November 2011 um 16:19

[…] (wie der Social Reader der Washington Post oder der des Wall Street Journal), und Thomas Knüwer befürchtet eine noch weiter fortschreitende Boulevardisierung des Journalismus, weil Frictionless Sharing einmal mehr diejenigen mit Viralität innerhalb des Facebook-Netzwerks […]

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Lesenswerte Artikel 27. November 2011 um 16:21

Warum Facebook die Boulevardisierung des Online-Journalismus fördern könnte…

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Die 40 viralsten Nachrichten Artikel 2011 auf Facebook | 120sekunden 29. November 2011 um 21:15

[…] auf Facebook 2011 sind, dann muss ich die Hände überm Kopf zusammenschlagen und Thomas Knüwer zustimmen: Bei Facebook wird am allermeisten Schrott […]

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Warum Facebook die Boulevardisierung des Online-Journalismus fördern könnte | shared – Der Abfall, der bleibt 4. Dezember 2011 um 23:42

[…] er wohl sagen will: Die reißerischen Schlagzeilen werden zunehmen. Warum Facebook die Boulevardisierung des Online-Journalismus fördern könnte. This entry was posted in Allgemein by Dogma Pillenknick. Bookmark the […]

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Lumma-Kolumne: Frictionless Sharing ist die Zukunft » t3n News 20. Januar 2012 um 11:04

[…] Die Idee des Frictionless Sharing wurde gerne kritisiert in den letzten Wochen und Monaten, aber es ist ein unausweichliches Feature für Facebook. Durch Frictionless Sharing wird die Plattform lebendiger und davon profitieren Nutzer und Developer, aber natürlich auch Facebook. […]

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