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In den vergangenen Wochen war viel Verzweiflung in meiner Twitter-Timeline. Verströmt haben sie netzpolitisch Interessierte, die nicht begreifen konnten, warum dies- wie jenseits des Atlantiks die Reaktionen auf die zahlreichen Überwachungseinrichtungen der verschiedenen Staaten so gedämpft ausfielen. Einige zogen gar Ägypten als Beispiel heran und wunderten sich, warum keine Anti-Prism-Zeltstädte errichtet wurden oder tausende gegen Tempora demonstrierten. Auch Vergleiche mit der deutschen Wende wurden gezogen.

shutterstock wütender kunde kleinNatürlich wäre es toll, würde die totale Überwachung eines Volkes mit demokratischer Grundordnung die Menschen auf die Straße treiben. Auch in den beiden Ausgaben des Digitalen Quartetts, die sich mit Prism beschäftigten, war dies Thema. Doch in der derzeitigen Gemengelage darf niemand damit rechnen, dass sich weitergehender Protest bildet, glaube ich.

Denn es fehlen die Auswirkungen auf den Alltag der Menschen. Acta beschwor die Angst von Internet-Sperren herauf, die Drosselkom ließ das Bild eines amputierten Internet entstehen. Doch die tatsächlichen Auswirkungen der Überwachung zu verdeutlichen, fällt schwerer. Niemand bekommt mit, wenn seine Kommunikation protokolliert und aufgezeichnet wird. Gerade in Deutschland nutzen viele Menschen Social Media ohnehin so, wie sie Autos fahren: Immer 20 km/h zu schnell – das gibt zwar ne Geldstrafe aber keinen Führerscheinentzug. Und so sehen sehr, sehr viele ihre digitale Kommunikation als abhörgeeignet an: Da steht eben wenig drin, was nicht auch an einem halb öffentlichen Ort wie einem Restauranttisch gesagt würde. Und deshalb fühlen sich die Menschen sicher. Nur diesem Scheinfrieden ist es wohl auch geschuldet, dass noch immer keine automatische Verschlüsselung von E-Mails erfolgt: Man glaubt, dies sei ein sicherer Transportweg, weil man selbst nicht in der Lage wäre eine Mail abzufangen.

Den netzpolitisch Aktiven fällt es schwer, die bedrohlichen Folgen aufzuzeigen. Wer sich überwacht fühlt, kommuniziert anders? Das klingt so abstrakt, so fremd, das betrifft nur wenige, so die Gedankenlage. Es fehlt das Narrativ, die leicht zu merkende Erzähllinie, die Menschen auf ihre Seite zieht wie damals Jugendliche im Fall von Acta, als sich die Youtuber-Szene einschaltete. Und mit Grundsatzfragen waren noch nie Massen zu bewegen. Selbst die Überwachung zu Zeiten der DDR hatte unmittelbarere Auswirkungen auf den Alltag: durch Drangsalierung. Doch so lang nicht reihenweise Europäer in Guantanamo landen gibt es eben keine großartigen Folgen für Sabine Mustermann.

Breite Bevölkerungsschichten jedoch für Grundsatzfragen bewegen – das mag nicht einmal der von Anfang an fehlbesetzte Bundespräsident Joachim Gauck. Dessen Staatssystemhörigkeit tritt nun, wenig überraschend, zu Tage. Seine kindlich-naive Äußerung ist da nur Testament einer vollständigen Weltfremde:

„Wir wissen zum Beispiel, dass es nicht so ist wie bei der Stasi und dem KGB, dass es dicke Aktenbände gibt, in denen unsere Gesprächsinhalte alle aufgeschrieben und schön abgeheftet sind. Das ist es nicht.“

Dieser alte Herr hat seine Verdienste – er sollte sie im Ruhestand genießen, nicht in einem öffentlichen Amt gehobenster Güte.

Und die Bundesregierung? Einige Zeit dachte ich, sie betreibt Machterhalt und wagt sich deshalb nicht aus der Deckung. Denn die Amerikaner werden den Teufel tun und Prism einstellen. Und das größte Druckmittel – die Verhandlungen zwischen über eine Freihandelszone zwischen den USA und Europa einzustellen – würde aus Sicht der Freihandelsfreunde in der CDU langfristig mehr schaden als nutzen. Erst recht, wenn die Wahl besteht zwischen abstrakten Bürgerrechten und handfesten Steuereinnahmen.

Doch inzwischen frage ich mich, ob nicht der bekannte Mechanismus der Technophobie greift. Quer durch die Politik hat man Vorstellungen von der Art, wie Geheimdienste überwachen, die mich an Zustände aus der Zeit von „König, Dame, As, Spion“ erinnern. So zeugen die Tweets des NRW-Landtagsabgeordneten Lukas Lamla (Die Piraten) von gehobener Naivität des nordrheinwestfälischen Innenminister Ralf Jäger (SPD):

So bleibt nur eine letzte Hoffnung: die Wirtschaft. Vor allem großen Unternehmen scheint noch gar nicht klar geworden zu sein, was da gerade passiert. Es geht nicht um Terrorismus und Staatssicherheit, wenn Einrichtungen der Europäischen Union überwacht werden und dieser Bündnispartner auf einen distanzierteren Status gerückt wird. Was hier passiert ist systematische Wirtschaftsspionage. All jene Sicherheitseinrichtungen, die vor allem Großkonzerne gegen angebliche chinesische Hacker eingerichtet haben, erweisen sich als schlechter Witz. Stattdessen ist es der vielleicht wichtigste Wirtschaftspartner, der systematisch Daten abgreift.

Schon geben IHK IT-Sicherheitshinweise für Unternehmen. Doch die greifen einfach zu kurz. Der Fall Evernote hat gezeigt, wie schnell Unternehmens-IT unterlaufen wird: Der Dienst musste keine Firmenversion auf dem Markt bringen. Er wusste: Wenn seine Cloud-Notizbücher erfolgreich sind, werden sie sich in Unternehmen einschleichen. Erst wenn sie das geschafft haben, muss man eine Unternehmensversion nachreichen. Sprich: Unternehmen können sich heute nicht mehr gegen Dienste wehren, die ihre Mitarbeiter für sinnvoll halten und verwenden – egal, was die Vorschriften sagen.

Deshalb wäre es sinnvoller, würden die Industrie Druck auf die Regierung ausüben. Mehr noch: Ich glaube, die Industrie ist die einzige Hoffnung, dass sich an Programmen wie Prism kurz- bis mittelfristig etwas ändern wird. Denn sie hat eben Einfluss, erst recht auf die lobbyhörige Kanzlerin Angela Merkel.


Kommentare


Thomas Kuhn 10. Juli 2013 um 14:49

Lohnt es sich in dem Zusammenarbeit auf den aktuellen WiWo-Titel zu verweisen? Du greifst mit dem Blick auf „die Wirtschaft“ exakt unser Thema auf.

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Thomas Knüwer 10. Juli 2013 um 14:55

Oh, das wusste ich nicht. Aber ich hätte ja leider auf Euch nicht verwiesen aufgrund des Leistungsschutzrechtes und der damit verbundenen rechtlichen Unsicherheiten.

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Sven Scholz 10. Juli 2013 um 23:35

Soso, die WiWo als Auskenner zu dem Thema – Moment, da war doch was… https://twitter.com/wiwo/status/353048386888413185

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Grumpy 11. Juli 2013 um 2:00

Kurze Anmerkung, Herr Knüwer: der @maltis heisst Lamla mit Passnamen, nicht Lamia.

Und jetzt Donnerstag wird übrigens der Antrag 16/3434 im NRW Landtag behandelt: „Nordrhein-westfälische Unternehmen vor staatlicher Wirtschaftsspionage durch
Überwachungsprogramme wie PRISM und Tempora schützen!“

Ich setze mal keinen Link damit das hier nicht wie Parteienwerbung aussieht 😉

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Thomas Knüwer 11. Juli 2013 um 9:01

Danke für den Hinweis – ist korrigiert. Und Links zu Parteien dürfen ruhig gesetzt werden. 😉

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Die Bundesregierung positioniert sich gegen die Überwachung | Kotzendes Einhorn 11. Juli 2013 um 10:34

[…] Park findet, dass der PRISM-Skandal Lebenslügen unserer Demokratie aufdecke und Thomas Knüwer fordert Empörung von der Wirtschaft. Und was mir bei den allem stets zu kurz kommt ist, dass Kehren vor der eigenen Haustüre. Die […]

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» Niemand hat die Absicht die Demokratie abzuschaffen – Der NSA Skandal – Das private Blog von Claudia Sommer 11. Juli 2013 um 11:34

[…] Warum die Wirtschaft sich über Prism empören muss […]

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Überwachung? | Krakendate 11. Juli 2013 um 13:07

[…] Park findet, dass der PRISM-Skandal Lebenslügen unserer Demokratie aufdecke und Thomas Knüwer fordert Empörung von der Wirtschaft. Und was mir bei den allem stets zu kurz kommt ist, dass Kehren vor der eigenen Haustüre. Die […]

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sportinsider 11. Juli 2013 um 13:25

Nagel auf den Kopf getroffen. Danke für die klaren und offenen Worte in Richtung BP Gauck.

Diese unsägliche Aussage ist ja kaum nachzuvollziehen.
Unglaublich. Was soll dieses Deckmäntelchen über die Bespitzelungsorgie der Amis. Diese Relativierung einer Sauerei.

Ich schätze meine Stimme kriegt er nicht bei der nächsten Wahl zum Bundespräsidenten. Halt, das ist ja eh ein innerer Zirkel der nach parteipolitischen Kalkül die Person in das Amt hebt.

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Amx 11. Juli 2013 um 14:08

So, jetzt zähle ich mal Erbsen auf einem Nebenkriegsschauplatz, aber wenn man sich schon Sprachbilder ausdenkt, sollten die auch stimmen.

1. wenn man 20 km/h zu viel fährt, gibt es noch keine Punkte.
2. wenn es welche gäbe, wäre der Führerschein irgendwann doch weg, weil genau das der Sinn des Punktesystems ist: dauernde Regelbrecher irgendwann nachhaltig zu bestrafen.

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Thomas Knüwer 11. Juli 2013 um 14:18

Sorry für den Fehler – ich meinte genau das und hab es oben korrigiert.

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Somaro 12. Juli 2013 um 18:37

Herr Knüwer, können Sie denn die Auswirkungen der massiven Bespitzelung nennen?
Nein, sicher nicht. Und ich kenne keinen der das bisher konnte.

Weil es keine gibt.
Weil 1984 eben nicht 1984 ist. Weil die Behörden und Konzerne mit ihren Daten nichts anzufangen wissen. Weil so viel gesammelt wird, dass auch 100,000,000 Millionen Algorithmen kein sinnvolles Bild mehr liefert. Weil pro Tag mehr Daten gesammelt werden als alle Menschen dieser Welt in einem Jahr durchsehen könnten.

London, München, Boston, Brasilia, Berlin, Düsseldorf, Warschau, DNA-Rasterfahndung, Dresden…. einige wenige BEispiele die zeigen, dass die Behörden zwar sammeln aber nicht wissen was sie damit anfange sollen.

Und die Menschen? Die wissen, dass es keine Auswirkungen hat und verhalten sich deshalb nicht anders als ohne Überwachung. … Ja, ich weiss es gibt Studien über angeblich verändertes Verhalten: Mit dem Unterschied, dass in diesen Studien die Probanden wussten dass sie in diesem MOoment beobachtet werden.
Der normale Mensch auf der Straße und am PC weiss: Gibt so viele Kameras, kann sich keiner alle ansehen. Werden so viele Mails verschickt, die kann keiner zeitnah oder überhaupt in seinem Leben lesen.

ACTA, Drosselkom, LSR… alles Auswirkungen. Datensammelwut? Im Gegensatz zu den 70ern wo Technik noch was Neues war wissen wir heute: Daten zu haben bedeutet nicht Daten auswerten zu können.

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daniel 15. Juli 2013 um 22:58

somaro, such dir die artikel zur ueberwachung mit dem stichwort „algorythmen“. heutzutage wird automatisch gefiltert und dann kommen menschen drann. aber auch, weil vieles oder alles gespeichert wird, kann sowohl automatische als auch manuelle analyse auch 10,30 oder 60 jahre später statfinden… unter ruecksicht aller neuen moralvorstellungen und gesetzen die aufgekommen sind.

komischerweise glauben die leute dass sich diese moralvorstellungen nur verbessern, leuten also mehr freiheiten geben werden, und wir gesetze ja nie rueckwirkend anwenden werden.

das ganze als hauptsächlich eine sache von firmeninteressen wegen industriespionage abzutun ist verharmlosend. ja, ich weiss, im artikel hier gehts eher darum wer sich vieleicht effektiv wehren könnte… trotzdem.

ein argument das auch normalbuerger sehen sollten: wie damit geheimdiensten die möglichkeit gegeben wird jede, aber auch jede person zu bedrohen. wenn sie nichts finden, wird halt erfunden und in die daten eingemischt. ging zwar auch bisher schon, nun aber nochmal einiges einfacher. –> direkten einfluss auf die politik kann im fall von missbrauch extrem sein.
aber, sind ja unsere geheimdienste, die missbrauchen das schon nicht…

…tut weh das ganze.

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daniel 15. Juli 2013 um 23:04

obwohl, auch ueber umwege scheinen drohungen als unnötig riskannt fuer geheimdienste oder einzelne mitarbeiter… mit diskreditieren/anschwärzen können zwar keine genauen verhalten vorgeschrieben werden, einflussnahme laesst sich so aber ziemlich risikolos ausüben.

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