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Am 5. Juni 1945 erklärten die alliierten Streitkräfte der Siegermächte des Zweiten Weltkriegs die Regierungsmacht über Deutschland zu übernehmen. Diese Bekanntmachung ging in die Geschichte ein als „Berliner Erklärung„.

Heute wurde eine neue Berliner Erklärung abgegeben. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass die Unterzeichnenden keinen blassen Schimmer haben, dass der Begriff schon besetzt ist. Wieder geht es um eine Machtübernahme, um die komplette Neuordnung eines Systems. Nur: Diesmal sind es nicht die Guten, die erklären – es sind die europäischen Verleger.

Die fünf Thesen, die sie aufgesetzt haben kommen einem versuchten Gesesllschaftssystem-Streich gleich, sie sind eine weitere Unverschämtheit dieser Branche mit der Moral Heizdecken verkaufender Kaffeefahrtenveranstalter. Ihre Forderungen richten sich an die Politik, deshalb sind es nur fünf und sie sind schön kurz und knapp – sie halten die geistige Kapazität von Parlamentariern offensichtlich für extrem begrenzt.

Trotzdem aber strotzt der Text von putschistischem Gedankengut. Bemerkenswert: Der Zeitschriftenverleger-Verband VDZ hat es nicht geschafft, eine vollständige Übersetzung des Textes auf seiner Homepage zu platzieren.

Schon die erste Forderung ist unfassbar:

„Der Verzicht auf jegliche weitere Beschränkung der Freiheit der Presse in redaktioneller, werblicher, vertrieblicher oder sonstiger Hinsicht als Minimum vernünftiger Medienpolitik.“

JEGLICHE weitere Beschränkungen sollen fallen? Das Medienrecht darf nicht mehr auf aktuelle Entwicklungen angepasst werden? Paparazzi dürfen tun, was sie wollen? Foto- und Urheberrechte dürfen verletzt werden, so lange Verlage es tun? Adressdaten dürfen munter verkauft und eingesammelt werden? Abo-Täucher und -Trickser werden nicht mehr beschnitten? Wenn es eine neue Werbebeschränkung, sagen wir für Tabak, eingeführt wird – dann soll sie für Printwerbung nicht gelten?

Um es mit einer anderen Medienkritikerin zu sagen: Ich glaube, es hackt! Die Verlage stellen sich über das Gesetz, über unsere Gesellschaftsordnung, über jedwede Ethik. Wer dies versucht, hat in einer demokratischen Gesellschaft nichts verloren.

Geradezu irrsinnig dann die zweite Forderung. Im deutschen klingt sie einfach platt: „Faire Rahmenbedingungen für innovative Geschäftsmodelle im digitalen Zeitalter.“

Wo sollen die denn unfair sein? Erst der englische Gesamttext verrät: Es geht gegen Apple.

„Publishers must not be discouraged from investing in digital developments. In order to meet their digital challenges publishers must be able to choose the best models for the monetization of their content, via sales or advertising. The press is presently at a disadvantage when it comes to commercial negotiations with digital key players. In the case of paid-for solutions (e.g. through tablets), the margins publishers derive from online offers may even in some cases be reduced compared to the margins in print. A close analysis by authorities is therefore needed in order to ensure a level playing field for all the stakeholders in the digital value chain.“

Wie weinerlich-egoman muss man sein, um diesen ersten Satz zu verfassen. Büüüüttttööööö entmutigt die kleinen, süßen Verleger nicht mehr. Dann sind die nämlich ganz, ganz traurig – und das wäre doch echt schadöööö.

Tatsächlich aber geht es natürlich darum, dass die Verlage vor allem bei Apple schmarotzen wollen. Da baut ein Technologieunternehmen eine erfolgreiche Plattform auf – und verlangt für deren kommerzielle Nutzung Geld. Alltag in einer Marktwirtschaftt. Doch nicht für Verlage. Sie wollen kostenlos darauf Geschäfte machen. In der Tierwelt kennt man solch ein Verhalten von Zecken.

Und natürlich – das mit Lügen gepolsterte Leistungsschutzrecht muss ja durchgedrückt werden – soll auch ein „effektiver Urheberrechtsschutz als Grundlage einer lebendigen Presse“ her. Hier geht es gegen Google, denn im englischen Volltext ist die Rede von Aggregatoren. Also sollen auch Ausschnitte, im Jargon Snippets, unter Urheberrecht fallen. Damit attackieren die Verleger das Zitatrecht – eine der Säulen der freien Meinungsäußerung, eine Säule der Wissenschaft (fragen Sie mal den Ex-Verteidigungsminister), eine Säule der Demokratie.

Die vierte Forderung, geminderte Umsatzsteuer – ja, Gott. Die Verlage glauben immer noch, dass die Menschen ihre Produkte nur wegen der Kosten nicht kauften. So ist das halt, wenn man noch nicht in der digitalen Welt angekommen ist.

Womit wir bei Forderung 5 wären: „Gerechte Bedingungen und Transparenz in der Digitalen Welt.“ Wo sollen die denn nicht vorhanden sein? Wir leben in einer Welt, in der unabhängige Künstler heute ihr Publikum erreichen, ohne dass sie vorher einen Plattenvertrag abschließen oder ein Filmstudio finden. Wir leben in einer Zeit, in der sich jeder Gehör verschaffen und in den gesellschaftlichen Diskurs einsteigen kann.

Wenn die Verlage nun gerechte Bedingungen und Transparenz fordern, so ist dies gleichzusetzen mit Walter Ulbricht:“ Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten!

Wir alle können nur an Deutschlands Politiker und an die der EU apellieren, diesen Angriff auf das demokratische System abzuwehren.


Kommentare


Sean Kollak 18. März 2011 um 16:13

Habe mich köstlich amüsiert. Danke.

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teekay 18. März 2011 um 16:52

Wie man das Thema anders und richtiger angehen kann zeigt der aktuelle Beitrag des NYT-Herausgebers zur Einfuehrung von ‚digital subscriptions‘:
http://www.nytimes.com/2011/03/18/opinion/l18times.html

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Mett 18. März 2011 um 17:29

Du glaubst doch nicht etwa, dass die eine Umsatzsteuerermäßigung an die Käufer weitergeben würden…?

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Stefan 18. März 2011 um 18:29

Ich stelle mir gerade vor, wie ein Schreiben der Immobilien- oder Autohändlerverbände an die Verleger aussehen könnte:

„Liebe Verleger,
mit unseren Anzeigen erhalten ihre Zeitungen kostenlosen Content. Wir weigern uns deshalb in Zukunft, für diese Anzeigen auch noch zu bezahlen. Wir fordern die Politik auf, uns prozentual an den Zeitungsverkaufserlösen zu beteiligen, schließlich führen unsere Inhalte vor allem Wochenenden zu steigenden Verkaufszahlen. Für diese gesellschaftlich wichtigen Leistungen sollte uns ein Schutzrecht gesetzlich zugesprochen werden.“

Eine absurde Geschichte? Ja, aber weniger absurd, als das was die Verleger wollen.

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Martin 18. März 2011 um 18:43

Presseerzeugnisse haben bereits eine ermäßigte Umsatzsteuer wenn ich mich nicht irre…

Waren des täglichen Bedarfs wie der Playboy 7% Mwst.
Babywindeln hingegen 19% Mwst.

logisch, oder..?

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Gerald 18. März 2011 um 19:05

Erstaunlich, wie im ersten Satz jegliche weitere staatliche Einmischung abgelehnt wird und dann im gesamten nachfolgenden Text genau diese gefordert wird.

Offensichtlich verstehen die Verlage unter „Pressefreiheit“ die Freiheit der Presse vor Konkurrenz.

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Detlef Borchers 18. März 2011 um 20:34

Auch wenn der Heise-Verlag und damit mein Hauptbrötchenfinanzierer der deutsche Erstunterzeichner dieser Erklärung ist, muss ich im Ganzen zustimmen, dass die Erklärung haarsträubend und in ihrem Appell an „authorities“ hanebüchen ist.

Sie ist aber nicht „putschistisch“ im Sinne, dass für eine andere Gesellschaftsordnung geputscht wird. Außerdem – noch wichtiger – ist sie NICHT das von Verlegern in Deutschland angestrebte Leistungsschutzrecht, sondern eine international orientierte Erklärung. Da liegt eine Verwechslung vor. Das ist ein Lobbydokument in Vorgriff auf das G8 Internet-Treffen.

@Martin: Ja, Print ist MwSt-reduziert, es geht um reduzierte Steuern für Digitalprodukte. –Detlef

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Anmerkungen zur “Berliner Erklärung” 18. März 2011 um 20:40

[…] mehr Meinung zur Berliner Erklärung will, kann sich wie immer bei diesen Themen an einem wild fuchtelnden Thomas Knüwer ergötzen . Artikel mit Anderen […]

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Dr. Klaus Graf 19. März 2011 um 0:47

Der begriff ist noch viel spezifischer besetzt, nämlich mit der Berliner Erklärung für Open Access 2003:
http://archiv.twoday.net/stories/15730518/

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Zeitschriften Abonnent 19. März 2011 um 3:45

Man muss beispielsweise verhindern, das Amazon 20 jährige Exklusiv-Verträge und micro-Bezahlungen an Autoren durchsetzt und man de facto für Springer ein iPad und für andere Verlage ein Kindle und für TV-Zeitschriften ein Android kaufen muss.

Manche der Forderungen haben – möglicherweise unabsichtlich – teilweise auch gute Begründungen oder konstruktive Interpretationen, auch wenn sie von bösen Leuten natürlich böse gemeint wären, was natürlich bei den investigativsten ehrbarsten Qualitäts-Leistungs-Verlagen nicht der Fall ist. Ich will wissen, wie viel von meinem Geld beim Autoren landet und wie viel in den Taschen welcher Zwischenhändler. Transparenz ist nur eine verkappte Formulierung für Markt und seine Versprechen wie Preis-Gerechtigkeit, Exklusivitäts-Freiheit, Effizienz, Verschwendungs-Freiheit und im Prinzip selbstverständliche Voraussetzung bzw. Ziel für alle diktaturfreien Systeme von Angebot und Nachfrage.

Auch bräuchte es funktionierende Regeln für Gebundene Bücher, Taschenbücher, Hörbücher, Übersetzungen und EBooks sowie Zeitbegrenzung für Exklusivität.

Die Gewerkschaft sollte es den Ausbeutern zeigen und ihre neu eröffneten Chancen nutzen. Das tut sie aber leider nicht und wir müssen weiter weitflächig Unfug lesen. Ghaddaffi-News ist vermutlich ähnlich lesenswert und dort vielleicht das Preis/Leistungs-Verhältnis besser als bei dpa-reuters-copy-und-Partei-Postillen.

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Linkdump for 19. März 2011 Links synapsenschnappsen 20. März 2011 um 8:57

[…] Die Berliner Erklärung der Verleger – ein Angriff auf die Demokratie – (Tags: Verlag BerlinerErklärung Medien ) […]

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Aus dem Google Reader gefischt [ 20. March 2011 ]: Linkdump synapsenschnappsen 20. März 2011 um 9:58

[…] Reader: Die Berliner Erklärung der Verleger – ein Angriff auf die Demokratie Täusch ich mich, oder wird Knüwers Marktschreier-Gebelle immer ermüdender? […]

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Links anne Ruhr (20.03.2011) » Pottblog 20. März 2011 um 11:47

[…] Die Berliner Erklärung der Verleger – ein Angriff auf die Demokratie (Indiskretion Ehrens… – […]

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Neues altes aus dem Verlagswesen: Unfaire Fairness der Berliner Erklärung | lemontreepresse 21. März 2011 um 7:32

[…] interpretieren und gerade rücken. Wer noch nicht genug hat sollte sich auch die Beiträge von Thomas Knüwer und Marcel Weiss […]

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Links : Ralph's Blog 21. März 2011 um 11:30

[…] Sie sind eine weitere Unverschämtheit dieser Branche mit der Moral Heizdecken verkaufender Kaffeefa… Trackback URL […]

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SvenR 21. März 2011 um 12:44

Ich glaub‘, ich werd‘ Verleger. Muss schön sein. #kotz

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Too much information » Lesezeichen 21. März 2011 um 23:21

[…] Die Berliner Erklärung der Verleger – ein Angriff auf die Demokratie – Tags: | Twittern var flattr_wp_ver = '0.71'; var flattr_uid = 'tencars'; var flattr_cat = 'text'; var flattr_tle = 'Lesezeichen'; var flattr_dsc = 'Die Berliner Erklärung der Verleger – ein Angriff auf die Demokratie -'; var flattr_tag = ''; var flattr_url = 'http://toomuchinformation.de/2011/03/21/lesezeichen-98/'; var flattr_lng = 'de_DE'; ähnliche Einträge Lesezeichen […]

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Hanno 23. März 2011 um 22:44

Gehen die Verlage eigentlich auch gegen die Presseschau auf der ARD vor? Oder gegen andere (Print-)Zeitungen, wenn sie Auszüge von deren Artikeln veröffentlichen („die Meinung der anderen“)? Oder bekommen sie dafür von der ARD Geld?

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