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Tageszeitungen lese ich praktisch nur noch im Flugzeug. So wie heute auf dem Weg nach Berlin. Dort kebbelte ich mich im Rahmen eines Seminars des Instituts für Sozial- und Wirtschaftspolitische Ausbildung mit Rolf Kleine, dem Hauptstadtbüro-Leiter von „Bild“. Ich denke, es war ganz unterhaltsam.

Auf dem Flug dorthin blätterte ich also durch den Blätterwald. Und was nun folgt ist eine komplett subjektive Auswahl, ein paar Notizen und Dinge, die mir aufgefallen sind. Das ist in keiner Weise repräsentatitv – gefühlt aber irgendwie der normale Alltag deutscher Zeitungen. Und eines vorweg: Ich habe kein einziges Stück gefunden, das mich begeistert, überrascht oder herumgerissen hätte.

Financial Times Deutschland: Der Boulevard hat gewonnen. „Wikileaks stellt Großmacht USA bloß… Mehr Tote als bekannt“, schreit mir die Seite 1 entgegen. Und: „Berlin wagt Tabubruch für Euro-Rettung“. Oder „Cash für alle Fälle“. Auch wenn es hier um Wirtschaft und Politik geht – der Duktus ist bekannt. In diesem Tonfall schrieb einst die „Bild“ – die heute nochmal aggressiver daher kommt.

Frankfurter Allgemeine Zeitung: „Denk ich an Deutschland“ ist eine Konferenz überschrieben, die von der „FAZ“ mitorganisiert wird. Weshalb sie auch in der Zeitung auftauchen muss – egal, ob das interessant ist oder nicht. Kleine Inhaltssplitter werden irgendwie zu einem Text gegossen, Tiefe kommt so nicht auf. Auch deshalb weil über die Hälfte der ganzen Seite, die sich der Konferenz widmet aus Fotos besteht. Welchen Gewinn zieht der Leser aus den 362.879. Bild von Kurt Biedenkopf? Aus einem Portrait von Wolfgang Nowak, dem Geschäftsführer der mitveranstaltenden Herrhausen-Gesellschaft? Einer eher unglücklichen Ablichtung der in der Bildzeile nicht weiter eingordneten Necla  Kelek? Keinen. Aber die Großkopferten waren mal in der Zeitung und die beiden Redakteure mussten sich nicht noch mehr Text aus den Fingern saugen.

Handelsblatt: Seit einiger Zeit vergibt mein ehemaliger Arbeitgeber den „Pinocchio des Tages“. Politiker und Manager sollen bei Lügen und Schwindeleien ertappt werden, je länger die Nase des Pinocchio, desto größer die Distanz zur Wahrheit. Heute ist die Nase mittellang, weil Apple-Chef Steve Jobs gesagt hat: „Wir haben mit Leichtigkeit Blackberry geschlagen mit ihren 12,1 Mio. Geräten im jüngsten Quartal… und ich sehe nicht, dass die in absehbarer Zeit werden aufholen können.“ Das „Handelsblatt“ kommentiert: „So kann’s gehen: Den Rekordverkauf von 14,4 Mio. Iphones im Quartal wollte Jobs mit einem Seitenhieb auf die Konkurrenz feiern“ und erklärt den Haken. Der Blackberry-Hersteller Rim beendet sein Quartal im verkaufsschwachen August, Apple im besseren September. Nach Jobs Äußerung hat Rim seine Schätzung für das laufende Quartal eingeworfen, es sind 13,8 bis 14,4 Millionen Geräte. Moment – das sind doch immer noch weniger als Apple. Weshalb der Pinocchio? Weil das „Handelsblatt“ die Apple-Zahl auch noch falsch verwendete – es waren 14,1 Mio. Geräte. Was bedeutet: Die beiden sind gleich auf. Gibt’s auch nen Pinocchio, der sich zwischen seinen Fäden verheddert hat?

Süddeutsche Zeitung: Wieder siegt der Boulevard. „Bund trickst bei Schuldenbremse“ klingt nach fiesen Machenschaften der Regierung. Wer den Artikel aber durcharbeitet kommt zum Schluss: Das Thema ist komplexer als es die reißerische Schlagzeile glauben machen will.

Nochmal Süddeutsche Zeitung: Das heutige Streiflicht wirft einen Scheinwerfer auf die Haltung von Journalisten gegenüber ihren Lesern. Zitat: „Kurzum, man muss sich den Zeitungsleser als einen glücklichen Menschen vorstellen, auch und gerade wenn in der Zeitung mal wieder Unsinn steht. Denn dann hat der Zeitungsleser das erlesene Vergnügen, einen empörten Leserbrief zu schreiben.“ Leserbriefschreiber, sagte „FAZ“-Mitherausgeber Günther Nonnenmacher einmal, seien für ihn alle Fundamentalisten. Vielleicht hat die „Süddeutsche“ noch einen Job für ihn?

Frankfurter Allgemeine Zeitung: Und nochmal Boulevard-Triumph. Am Freitag Abend verletzte sich HSV-Torhüter Frank Rost. Doch wältze er sich nicht schmerzverzerrt vom Platz, nein, er ging einfach. Blöd, wenn man eine Spalte „FAZ“ zu füllen hat. Und so baut diese ein Mysterium auf: „So einen Abgang hat man auch noch nicht gesehen in der Bundesliga. Einmal drehte Frank Rost das rechte Bein noch angewinkelt zur Seite, ein letzter Test in Sachen Stabilität. Ohne sichtbare Regung ging er dann ganz langsam aus seinem Tor Richtung Hamburger Bank. Der Ball war vorher übers Gehäuse geflogen, Abstoß für den HSV, willkommene Pause für Rost, um einen merkwürdigen Marsch anzutreten, der eine verdutzte Mannschaft zurückließ. Was wollte Rost… Ohne es jemand anzuzeigen beendete Rost die Abendschicht dann einfach.“ Das Geheimnis: Rost war verletzt. Tja, so leicht sind „FAZ“-Redakteure zu überraschen.

Die Artikel sind übrigens nicht verlinkt, weil sie, so weit ich sehe, nicht online stehen oder nur hinter einer Bezahlwand.

All dies sind einfach kleine Dinge, die mir auffielen. Nichts besonderes. Aber irgendwie will mir immer weniger einleuchten, warum ich selbst im Flugzeug noch Zeitungen lesen sollte.


Kommentare


David 25. Oktober 2010 um 18:12

„Bund trickst bei Schuldenbremse“
– ja, das ist mal wirklich ’ne richtig reißerische Überschrift…

Und der anschließende Artikel zeigt auch noch Komplexität auf, unerhört! Ist das nun Tiefgang oder nicht?

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teekay 25. Oktober 2010 um 18:28

Auch wenn es die Zeitungsmacher vielleicht oeffentlich anders darstellen, so passen sich die Zeitungen einfach den Lesern an, also nicht Menschen wie Ihnen, die sich mit dem Internet ein bisschen auskennen, sondern Menschen im Main-Taunus-Kreis die einen Bericht zu einer Konferenz mit Kurt Biedenkopf-Foto gut und wichtig finden. Die haben die FAZ im Abo und das wird auch so bleiben. Ich habe gelengentlich aehnlich Erfahrungen und mir kommt es manchmal vor, als ob ich z.B. eine Angler-Zeitschrift lesen wuerde: Interessiert mich nicht-aber ich kann mir vorstellen, dass es eine community gibt, die die Infos gut und wichtig findet. Also muss es auch eine SZ-community [nicht die im Internet ;)] geben. 79,6 Millionen Deutsche (+/-) gehoeren nicht zu dieser community und sie duerfte auch eher kleiner werden.

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Brett 25. Oktober 2010 um 18:37

a) Montag ist generell ein schlechter Tag für Zeitungen.
b) Was war denn im Netz so interessant, das nicht ursprünglich aus einer Zeitungsredaktion bzw. von einem Nachrichtendiensr kam und mehr bot als nur einen weiteren Kommentar zu irgendetwas?
c) Ob man etwas Interessantes beim Lesen aufstöbert, ist auch eine Frage, wofür man überhaupt Interesse hat.
d) Bei vielen Informationen, die ich durch die Zeitung oder im Internet erhalte, weiß ich erst später, dass ich sie brauche. Manchmal, vielleicht sogar meistens, haben wir für Informationen erst später Verwendung (darum liest man ja „querbeet“ und froscht icht gezielt wie ein Wissenschaftler).
e) Im „Handelsblatt“ war z.B. Wirtschaftswissenschaften auf Seite 18/19 hoch interessant, insbesondere „Schulen vom Netz“ (etwas reißerischer Titel), wo es u.a. hieß: „Für die meisten Jugendlichen auf der Welt aber ist der Computer eine harte Karrierebremse – das stellen Ökonomen und Bildungsforscher immer wieder fest. Egal, ob der PC zu Hause oder in der Schule steht: Fast immer führen die Rechner zu schlechteren Noten und weniger Chancen auf dem Arbeitsmarkt.“ Habe ich mit Freuden meinen Brötchen beim Frühstück zitiert 🙂

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Carsten Rossi 26. Oktober 2010 um 9:40

Ich bin ebenfalls der Meinung, dass Zeitungen nur noch formale Fossilien sind. Aber Redaktionen bleiben weiterhin wertvoll. Ich stelle mir meine Ausgaben digital selber zusammen, schätze aber den Input einer professionellen Redaktion „on demand“ sehr.

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Die Kinderfresser-Bar: Warum ich keine Zeitung lese am Beispiel von DIE ZEIT 26. Oktober 2010 um 14:57

[…] Internet, abseits der hierfür nicht existenten Angebote der Verlage. EDIT: Es gibt noch mehr Menschen, die Zeitung lesen und sich fragen warum. Eingestellt von Crackpille um 04:21 Diesen Post per E-Mail versenden BlogThis! […]

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Philip Engstrand 26. Oktober 2010 um 15:29

Sagnmamal so,
wer einen (siehe SZ) 2-spaltigen Artikel ‚Bund trickst bei Schuldenbremse‘ „durcharbeiten“ muß…

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Lesefuchs 26. Oktober 2010 um 15:52

Ich sitze arbeitstäglich fast 2h in der Bahn. Man muss nur beoabachten wie 90% der Menschen die Zeitung lesen. In ca. 30min, wenn überhaupt so lange, ist alles überflogen. Selten bleibt jemand an einem längeren Artikel hängen. Ich denke das wissen die Redakteure genau. Inhalt interessiert kaum noch jemanden.

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Peter Lustich 27. Oktober 2010 um 22:20

In ca. 30 Minuten hat man die Zeitung überflogen, in 30 Minuten hat man die Bild komplett gelesen. Aber auch ich empfinde es so, dass selbst Zeitungen, die ich als „seriös“ bezeichnen würde, zu reisserisch sind. Finde dies hier ist ein gutes Beispiel dafür

„Süddeutsche Zeitung: Wieder siegt der Boulevard. “Bund trickst bei Schuldenbremse” klingt nach fiesen Machenschaften der Regierung. Wer den Artikel aber durcharbeitet kommt zum Schluss: Das Thema ist komplexer als es die reißerische Schlagzeile glauben machen will.“

Die Überschrift suggeriert doch schon einen „Skandal“, das ist deutlich. Bei mir lässt es ein merkwürdiges Gefühl zurück, wenn ich einen Artikel gelesen habe, der durchaus interessant war und eine reisserische Überschrift nicht nötig gewesen wäre.

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Pinocchio des Tages: Gabor Steingart 4. November 2010 um 12:34

[…] An jedem Tag verleiht das “Handelsblatt” den Pinocchio des Tages. Menschen werden dort mit Aussagen konfrontiert, die Fakten sollen die Zitate widerlegen und Lügner bloß stellen. Das ist erstmal mutig, denn die Titulierung als lügendes Holzmännchen an Strippen gilt gemeinhin nicht als schmeichelnde Bemerkung. Peinlich wird es aber wenn die so mutige Redaktion sich zwischen Zahlen, Daten, Fakten verheddert, wie jüngst in Sachen Apple. […]

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Eine kleine Dosis Mitleid für die Guttenbergerin der 1. März 2011 um 9:51

[…] Noch dazu stellt das ja den Chef, falls der vor Andruck nochmal gegenlesen sollte, zufrieden: Er ist meist nicht im Thema, weiß nicht, wo welche Informationen schon mal standen. So entsteht ein fast mafiöser Zusammenhalt. Selbst wenn ein Kollege ahnt, dass ein Autor abgeschrieben hat: Er wird es am nächsten Morgen nicht in der Redaktionskonferenz erwähnen. Bestenfalls Lesern könnte das auffallen. Die melden sich per Leserbrief – und gelten ohnehin als “Fundamentalisten”, wie es “FAZ”-Mitherausgeber Günthe…. […]

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Warum ich keine Zeitung lese am Beispiel von DIE ZEIT » benjamin-siggel.eu 30. September 2011 um 10:05

[…] EDIT: Es gibt noch mehr Menschen, die Zeitung lesen und sich fragen warum. […]

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