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In der Serie „Netzwert Reloaded“ verfolge ich jeden Montag, was das Team von Handelsblatt Netzwert vor exakt 10 Jahren über das digitale Geschäft schrieb. Mehr dazu hier. Alle Netzwert-Reloaded Folgen finden Sie hier.

Zwei Wochen waren vergangen seit jener ersten Leseprobe von Netzwert, die dem Handelsblatt schon so richtig beilag. Nun, am 4.9.2000 wurde es so richtig ernst mit dem Regelbetrieb. Chefredakteur Bernd Ziesemer schrieb dann auch gleich mal die „E-Mail aus…“-Kolumne auf der Seite 1. „Wir sind fest davon überzeugt, dass die neue und die alte Wirtschaft zusammenwachsen. Und dass sich gerade an den Schnittstellen beider Welten künftig viel Geld verdienen lässt“, lautete sein Crede.

Die Aufmachergeschichte handelte von US-Handelsunternehmen, die übersehen, dass sich in Europa gutes Geld verdienen ließe. Unternehmen wie Banana Republic boten zwar Online-Shops – doch der Versand nach Europa wurde explizit ausgeschlossen. Die Amerikaner seien zu fokussiert auf den Heimmarkt, kritisierten die Experten. Somit könnten die Europäer ihre Heimat unter sich aufteilen – und dann gen USA expandieren. Was Handelsunternehmen betraf lagen wir damit nicht schlecht: Heute gehören Europäer wie H&M oder Zara zu den großen Massen-Modehändlern weltweit. Abercrombie & Fitch dagegen hat hier zwar Kultcharakter – wagt aber weiter nicht die große Expansion.

Spannend beim Blättern durch die alten Netzwert-Ausgaben ist das Entdecken von vergessenen – oder noch immer aktuellen – Namen. Stan Sugarman, zum Beispiel, übernahm damals das Kommando in Sachen Multimedia bei Gruner + Jahr – dort ist er noch heute. Ian Clarke dagegen ist heute kaum noch bekannt. Er gründete einst die Dateitausch-Architektur Uprizer, dann zahlreiche andere Firmen wie die Videoplattform Revver. Wikipedia weist ihn weiterhin als sehr umtriebig aus – auch wenn er aus dem Fokus der Öffentlichkeit verschwunden scheint.

Wie sehr sich die Zeiten gewendet haben in den vergangenen 10 Jahre dokumentiert ein Artikel von Silicon-Valley-Korrespondent Rudi Kulzer. „Schönheit allein reicht nicht“, prophezeite er Apple, das einige Monate zuvor seinen G4 Cube vorgestellt hatte.

Und: „Der silberne Kasten ist jedoch mehr als ein leiser Rechner, er ist ein Symbol für die Lage bei Apple: Revolutionäres Design, Sinn für den Überraschungsmoment – aber recht wenig Substanz… Zudem fehlen Apple konkrete Pläne für Kleincomputer wie Palmtops“

Ich blicke auf mein Iphone und schmunzele.

Fast schon als Prophet erwies sich dagegen der Stockholmer Handelsblatt-Korrespondent Helmut Steuer in seiner „E-Mail aus…“ Es sei kein Traum, dass man durch eine Stadt gehe, das Handy piepse und offeriere das Sonderangebot eines Geschäfts, das 100 Meter weiter liege. UMTS mache das möglich. „Wo ist Peter? Wo Susanne? Ihr Mobilfunkbetreiber kann das Rätsel lösen“, schrieb Steuer. Heute können wir sagen: Oder Foursquare und Gowalla. In Schweden aber rege sich Unmut berichtete er. Gleichwohl lautet sein Fazit: „Verhindern lässt sich das wohl kaum. Und keine Angst: Irgendwann wird es Routine, die Werbebotschaften auf dem Handy zu löschen.“

Von Blogs sprach damals in Deutschland noch niemand. Foren waren damals der Ort der Diskussion und ein solches machte Netzwert auch auf. In jeder Ausgabe gab es die Rubrik „Streitfragen“, das Thema sollte im Web diskutiert werden. Mit dem Start der gedruckten Ausgabe ging nämlich auch unsere Homepage online. Wie sie an jenem Tag aussah, kann ich heute nicht mehr sagen. Die Wayback-Machine hat immerhin das Aussehen vom 16. Oktober vorrätig:

Die erste Streitfragen-Vorlage listete zehn Thesen des Netzwert-Teams zum E-Business auf. Hier sind sie verkürzt:

„1. Das Ende vom Anfang
Die Zeit der als Startups getarnten Boygroups ist vorbei… Der neue Realismus bedeutet aber nicht das Ende der digitalen Wirtschaft. Im Gegenteil: Die Möglichkeiten der neuen Medien sind noch nicht einmal ansatzweise erschlossen. Sie werden unsere Welt verändern wie zuvor die Dampfmaschine oder die Erfindung des Telefons.

2. E-Commerce wird E-Business
Der Zugang über Mobiltelefone wird neue Dimensionen erschließen, die Grenzen zwischen Online und Offline verschwimmen. Das Internet ist nicht mehr eine Geschäftsplattform von vielen, sondern Grundlage aller Unternehmensaktivität.

3.  Das Internet als Massenmedium
Entscheidend für die Verbreitung des Netzes wird… der Zugang über bedienerfreundliche Geräte … sein.

4. B2C ist nicht tot
Gezielter Markenaufbau statt der momentan grassierenden Schockwerbung ist die Grundlage des Erfolgs. Auch der Kundenservice muss drastisch besser werden. Denn nirgends können unzufriedene Kunden  das Image so schnell und unkompliziert ankratzen wie im Internet… Schon junge Firmen werden sich künftig an Logistik-Partner binden.

5. B2B teilt sich
Großkonzerne regeln ihren Einkauf vor allem über eigene … Plattformen. Unabhängigen Plattformen bleibt nur der Mittelstand.

7. Deutschland braucht Ideen
Deutsche Internet-Unternehmer hatten bislang ein einfaches Geschäftsmodell: In die USA fahren, eine Idee klauen und diese schnell und akkurat in Europa an den Start bringen. Das reicht auf Dauer nicht.

8. Wer sich zuletzt bewegt, hat verloren
Wenn der Vorstandschef sich E-Mails ausdrucken lässt oder nicht den Einschaltknopf für den PC findet, ist das ein sicheres Zeichen für den mittelfristigen Untergang… Entscheidungen über digitale Strategien sind zu wichtig, um sie Technikfreaks zu überlassen.

9. Politiker ins Internet-Zeitalter
Bundesfinanzminister Hans Eichel ist stolz darauf, keinen Computer bedienen zu können… Mit solcher Ignoranz wird Deutschland bald zum Technik-Entwicklungsland. Oberste Priorität sollte eine Reform der Ausbildung haben: Wirtschaft muss zum Pflichtinhalt an Deutschlands Schulen werden, jeder Schüler braucht einen Computer. Die Universitäten müssen sich… einstellen: mehr Teamarbeit, mehr Praktika, mehr Medienwissen, mehr Projektarbeit, mehr Internationalität.

10. Der Traum vom Unternehmer lebt
Eigenverantwortliches Handeln, Risikofreude und Arbeitsfreiräume sind heute oft wichtiger als die Absicherung durch einen Großkonzern und ein dickes Monatsgehalt. Das Internet ist nicht nur ein Arbeitswerkzeug. Es hat das Denken der Menschen verändert.“

Tja, so 10 Jahr später finde ich: So übel waren diese Thesen nicht.

Allerdings: Ist Ihnen etwas aufgefallen?

Den Kollegen beim Handelsblatt sofort – weder dem Netzwert-Team noch den Korrektoren aber fiel ins Auge, dass die zehn Thesen nur neun waren. Nummer 6 ist einfach verschwunden. Mutmaßlich, als das Logo für die Homepage eingesetzt wurde.

Unfassbar peinlich.

Noch peinlicher gar, als Boris Becker. Er warb für AOL zu jener Zeit, da es noch ein Internet-Zugangsanbieter war. Bernd Michael, Chef des Werbekonzerns Grey, hielt das für eine gute Idee: Ein bekanntes Gesicht baue bei einem technischen Thema Hürden ab: „Boris Becker, der überall für den Größten gehalten wird, war souverän genug zu sagen: Ich habe keine Ahnung.“ Für die Jüngeren unter uns: So sah das damals aus…

„Bin ich schon drin, oder was?“ – eine Frage, die im Leben Beckers an Bedeutung noch gewinnen sollte in den folgenden Jahren. Er war nicht der einzige Promi in digitaler Werbung: Claudia Schiffer hielt ihr Gesicht für Palm hin, Harald Schmidt für T-Online – und Lother Matthäus für 12Snap.

Und nächste Woche in Netzwert Reloaded: Götterdämmerung bei Lexika-Herstellern – ganz ohne Wikipedia.


Kommentare


Malte 6. September 2010 um 8:10

„Revolutionäres Design, Sinn für den Überraschungsmoment – aber recht wenig Substanz“

Zumindest bei Apple hat sich in den letzten 10 Jahren nichts geändert 😉

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Maschinist 6. September 2010 um 8:25

Nicht zu vergessen Bettina Zimmermann, die in einem Lycos-Spot erstmals der breiten Masse aufgefallen ist.

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Ari 6. September 2010 um 9:25

Interessant, auch wenn (was ich nicht vorwerfen will) zu der Zeit vieles davon eine Art „digitaler Zukunftsgrundkonsens“ war und man sehr ähnliches auch in der c’t, ix usw. lesen konnte.
Ich finds aber trotzdem interessant, dass sie das nochmal aufgreifen!

Ein bisschen vom Thema ab: Sie archivieren die alten Ausgaben in (privaten?) Ordnern? Weil sie gerne die Printausgabe zur Hand haben, auch um den Druck zu sehen und/oder um das Leseerlebnis zu haben wie es damals war? Oder aus Mangel an digitaler Verfügbarkeit und Archivfunktionen?
Ich sammel(te) auch gerne alte Zeitschriften. Wobei ich irgendwann auch die alten c’ts (Spitzen Archiv!), PC Joker (wie ich die vermisse) usw. vorallem aus Platzgründen entsorgt habe. Da muss sich was tun, mal sehen wie wir in 10 Jahren auf das Thema zurückschauen!

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Katharina 6. September 2010 um 12:27

Super Idee. Und echt mutig, sich dem Geschwätz von gestern zu stellen .

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Daniel 6. September 2010 um 17:08

Ja, gute Idee. Demnächst bitte mehr davon.

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Digital Life – Links des Tages vom 06.09.2010 » 3D, bilder, boris, duke nukem, javascript, keepass, Photoshop » Digital Life 6. September 2010 um 19:54

[…] Netzwert Reloaded (II): Boris ist drin, Steve ist out Wahnsinn wie die Zeit vergeht, nun ja, Boris war damals nicht schlecht. Schlimmer war von AOL der […]

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prüfer 7. September 2010 um 8:16

Und bitte noch ein Spezial über Loddar und 12Snap.
Das würde doch glatt 5 Minuten Primetime bei RTL bekommen.

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teekay 7. September 2010 um 14:25

Ich finde die 10 (9) Thesen auch sehr interessant-vorallem, weil sie zeigen, dass man die Geschwindigkeit mit der ‚das Internet‘ die Welt wie wir sie kennen veraendern wird nach wie vor stark ueberschaetzt. Viele CEOs lesen immer noch keine E-Mails, viele Politiker haben immer noch wenig Ahnung von Internet-Themen und nicht jeder Schueler hat einen Computer (in der Schule) und nicht 20 Millionen Deutsche arbeiten ‚im Internet‘ und haben ein IPhone etc, sondern viel, viel weniger. Natuerlich hat sich viel bewegt-aber 10 Jahre sind ja nun auch ein langer Zeitraum. Vermutlich wird man in 10 Jahren lesen, wie die ‚Gelddruckmaschine‘ facebook ueberschaetzt wurde und das Second Life ein Nischen-Produkt geblieben ist. Die Lebens- und Arbeitswelt vieler Menschen aendert sich langsam(er) und gradueller-egal, ob das nun ‚gut‘ oder ’schlecht‘ ist.

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