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Ein „Spiegel“-Titel muss sich verkaufen. Und weil sich verkauft, was der Masse gefällt, ziert die aktuelle Ausgabe ein Leiterplatten-Adonis und die reißerische Überschrift „Ich im Internet – wie sich die Menschheit online entblößt“. Das hat bemerkenswert wenig mit der dazu gehören Titelgeschichte zu tun. Vor langen Jahren saß ich in der Georg von Holtzbrinck-Schule mit einem Volontär zusammen, der bei seinem Vorstellungsgespräch gesagt hatte, er wolle lieber zum „Spiegel“. Eingestellt wurde er trotzdem, schließlich war unser Schul-Leiter Ferdinand Simoneit alter Spiegelaner und solche Direktheit gefiel ihm.

Dieser Ex-Volontär heißt Frank Hornig – und ist heute New-York-Korrespondent des „Spiegel“. Von dort aus hat er sich mit dem beschäftigt, was man irgendwie wolkig als Web 2.0 bezeichnet in diesen Tagen. In Klein-Bloggersdorf wurde die Geschichte bereits zur Kenntnis genommen. Ja, selbst Ossi Urchs taucht da aus der Versenkung auf. Sehr schön formuliert übrigens das hier:

„Warum nur verstehst Du es immer noch nicht, dass verspätetes Aufspringen auf einen imaginären Zug IMMER mit Abschürfungen im Gleisbett endet?“

Es scheint, als hätten im „Spiegel“ zwei Personen geschrieben. Die eine möchte das Thema auf ein intellektuell gehobenes Niveau ziehen, die andere möchte „Bild“ machen. Und so entsteht ein Artikel, der an diese alten Zeichentrickfilme erinnert, bei denen auf Kater Toms rechter Schulter ein Engel sitzt und auf der anderen ein Teufel.

Der Teufel wirft Sätze ein wie:
„So entblößen sich Abermillionen im Netz – mal als Besserwisser bei Wikipedia & Co., mal im eigenen Online-Tagebuch, mal ganz profan mit verhuschten Nacktfotos vor der heimischen Schrankwandkombination.“

Nun ist dies ja tatsächlich in Thema. Doch Kinderschänder bei Myspace oder Datenschutz – nein, tauchen nicht weiter auf. Die Entblößung dient nur als Vorwand um all jene neuen Internet-Idee auf Gummienten-Niveau hinabzuziehen, ständig ist alles „bunt“ oder „chaotisch“, was ja „Spiegel“-Sprache ist für „kannze allet vergessen“. Und die Auswirkungen des ganzen? „Sind bisher nur zu erahnen“, heißt es schon nach zwei Seiten und in diesem Moment sollte man das Thema vielleicht ruhen lassen, schließlich soll so eine Magazin-Geschichte ja so was haben wie These oder Tendenz.

Oft muss die Welt beim „Spiegel“ eben sein, wie die Welt zu sein hat. Und deshalb „schwellen“ die Börsenkurse „an“ und „etablieren sich“ „Überlebende wie Google in kürzester Zeit als Milliardenkonzerne“.
Und: „Börsenmillionen verpuffen nicht mehr großflächig in Werbekampagnen. Gemeinschaften wie Myspace, Flickr oder Youtube haben sich an der Basis quasi von selbst aufgebaut.“
Ja, gut, Myspace, Flickr, Youtube, die sind jetzt alle gar nicht an der Börse, weshalb sie nichts zu schwellen und verpuffen haben, aber seitwann werden in Hamburg Korinthen gekackt?

Zeit für den Engel, der ein wenig Brechts „Radio als Demokratisierungsmedium“ einstreuen darf und einen Schuss Enzensberger reingibt.

Und für Norbert Bolz, dessen Existenz nur daraus besteht, die ganze Welt über seine Existenz zu informieren. Er sorgt für die wissenschaftliche Untermauerung mit der Behauptung, all diese neuen Sachen im Internet dienten nur dazu, über die Existenz ihrer Autoren zu informieren. Und wer das fülle sei Idiot im griechischen Sinn:

„Ich meine das nicht böse. Die neuen Idiotae lassen sich ihr Wissen, ihre Interessen und Leidenschaften nicht mehr ausreden.“

Sowohl Bolz als auch der „Spiegel“ mögen sich einfach nicht vorstellen, dass sich im Internet Menschen tummeln, die tatsächlich von etwas Ahnung haben. Außer Software und so nen Zeugs vielleicht. Und hier liegt der generelle Denkfehler: Neben dem Meinungswissen, das unbestreitbar einen großen Teil von Weblogs, Podcasts & Co. dominiert, gibt es auch Expertenwissen. Und das in einem extrem weiten Bereich.

Aber das hat natürlich nichts mit entblößen, enthüllen, sich nackig machen zu tun. Und deshalb springt der Teufel hervor:

„Wer viel von sich preisgibt, wird interessant, er wird in anderen Blogs erwähnt oder mit ,comments‘ überhäuft.“

Doch, das steht da so: „comments“. Sind Kommentare auf deutsch. Aber die englische Vokabel in Anführung gesetzt kommt der These vom Hinternet eben näher.

Und so geht es weiter mit dem Zurechtlegen von Vorhandenem ohne weiteres Nachdenken. Da wird munter von der „Best-of-Gesellschaft“ geredet, ohne sich zu fragen, ob die derzeitige Internet-Entwicklung (Stichwort: The long tail) nicht das Gegenteil ist. Arctic Monkey und Gnarles Barkley muss der „Spiegel“-Leser kennen, die Bands werden zwar erwähnt, ihre Geschichte aber nicht – im Gegensatz zu Tekkan. Gnarles Barkley taucht dann weiter hinten im Heft noch auf, verwiesen wird auf die Geschichte aber nicht. Und Podcasterin Annik Rubens geht als „Nachwuchsmoderatorin“ durch, obwohl sie hauptberuflich Journalistin ist.

„Was aber bedeuten diese Veränderungen für die klassischen Medien“, fragt der „Spiegel“ dann. Eine Frage, die vor allem die Vertreter klassischer Medien interessiert. Rupert Murdoch darf noch mal seine Rede schwingen:

„Die Macht entgleitet den alten Eliten in unserer Branche, den Chefredakteuren, Verlagsführern und Eigentümern…“

Ja, stimmt ja auch. Dann aber als Beispiel Myspace anzuführen, ein Angebot, das reichlich wenig mit dem zu tun hat, was klassische Medien bisher veranstalten, wirkt eher unglücklich.

Ach, es ist ein ärgerlicher Artikel, eine New-Economy-Blase, in der nichts entblößt sondern vieles verschwurbelt wird. Gut, dass ich aus jener Volontärszeit weiß, dass Frank auch sehr viel bessere Sachen schreiben kann als dies.

Aber immerhin: Zumindest einen hat der Artikel zum Bloggen gebracht…

Nachtrag: Und auch eine der im Artikel Erwähnten, ärgert sich… (Gefunden bei Turi2)

Nachtrag vom 25.7.: Vielleicht hätte der „Spiegel“ auf Blogs wie diesen hier verweisen können. Dann hätte er weniger dümmliche Leserbriefe wie diese hier bekommen. Aber vielleicht gehts auch nur darum, der Leserschaft nach dem Mund zu schreiben. Oder dem Chefredakteur.


Kommentare


johnny 17. Juli 2006 um 16:44

Auftragsarbeit halt. Ich hatte nicht den Eindruck, dass ihn das Thema interessiert, als er mit mir geredet hat. Ich habe den Artikel noch nicht gelesen, verspüre aber auch keine Lust dazu.

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Jens 17. Juli 2006 um 17:43

danke, hast mir geld gespart (trackback)

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fishy 17. Juli 2006 um 18:22

Rupert Murdochs \“Die Macht entgleitet den alten Eliten in unserer Branche, den Chefredakteuren, Verlagsführern und Eigentümern…\“ ist eben nichts hinzuzufügen, der \“Spiegel\“ hat sich mit diesem Artikel doch wunderbar entblöst. Die Frage, was diese Veränderungen für die klassischen Medien bedeuten, kann er nicht im Ansatz beantworten.

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Sven 17. Juli 2006 um 21:32

Ja, schade, da kriegt der Spiegel wohl wie zu oft die Tür nicht vor der eigenen Tendenz zu….

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roland 18. Juli 2006 um 1:04

heute wegen der gebrochenen arme hilfsbesuch von anderen, die auch son dings haben, bei mir. beim einkaufen dann halt den spiegel gekauft, ich muss ja die zeit rumbringen. zu dritt dann reingesehen. sehr gelacht bei ebenjenem idiotae-satz.

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weltherrscher 18. Juli 2006 um 9:48

ich war richtig gespannt auf den artikel, an der kiosk-kasse konnte ich es kaum abwarten.

später dann zu hause, beim lesen, wollte ich eigentlich den spiegel wieder umtauschen. aber das kann man ja noch nicht.

der artikel ist so grauenhaft abrechnend mit dem \“bösen onkel internet\“, dass man sich ernsthaft fragt, ob das tatsächlich die sicht der spielgel-welt redakteure ist?

nett hingegen der hinweis auf ehrensenf und das fehlende hinweisen auf eben diese show beim eigenen onlineportal.

man könnte meinen, der artikel wurde nur dafür geschustert.. aber das wäre ebenso böse.. 🙂

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Armin 18. Juli 2006 um 12:27

Kuck doch mal auf den Kalender… im Sommer muss man halt auch Titelseiten und -geschichten vollkriegen. Und wenn\’s nur mit Pipifax ist.

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stoltesa 18. Juli 2006 um 18:46

Ich glaube, man sollte die Qualität dieses Artikels aus Perspektive der Kernzielgruppe bewerten. Und weil die Lehrerzimer der Republik auf Basis dieses Artikels jetzt wieder wissen, was sie denken sollen, ist er gut. Und ganz weit entfernt von Visionären wie Euch, aber so isses halt.

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Klaus Eck 18. Juli 2006 um 21:56

Letztlich ist so ein Spiegel-Artikel immer auch eine Frage der Erwartungshaltung. Spannend finde ich daran vor allem, wie eine breite Leserschaft diesen Inhalte rezipieren dürfte… Altbekannte Klischees werden in altbewerter Manier aneinandergereiht. Mich erinnert es an die Wahrnehmung des Internets in den Vorhypezeiten. Dabei wird zwar (vergeblich) versucht, die ganze Welt des Web 2.0 zu erklären, ohne wirklich Tiefe zu gewinnen, andererseits dürfte der Artikel den einen oder anderen neugierig auf das Thema machen. Viele dürften bei ihren Recherchen überrascht sein, dass es genügend Expertise in der Blogwelt gibt.

Nett fand ich zumindest die Erläuterung des Begriffes Doxa, der für reines Meinungswissen steht und mit dem Norbert Bolz uns Blogger tituliert. Auch wenn ich glaube, dass es genügend fundiertes Wissen in den Blogs gibt, finde ich seinen Gedankengang zumindest nachdenkenswert. Schließlich meint er, dass die Nichtexpertise der vielen Networker durchaus dem Fachwissen einzelner ebenbürtig sei. Viele Diskussionen in der Blogosphere zeigen mir immer wieder, wie mächtig bestimmte Ideen sind, wenn sie von vielen Bloggern aufgenommen und geteilt werden.

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Annelu Küsters 19. Juli 2006 um 15:51

Gut beschrieben, was schlecht war an der Story! Schade, denn oft sind die Titelgeschichten sehr informativ. Aber hier hatte ich das Gefühl, da hat sich jemand ein paar Stündchen durchs Internet geklickt und dann nett paraphrasiert. Schnell noch ein paar Homepages nachgebildet, 2 Graphiken, Agenturfotos und noch was aus´m Archiv – und fertig ist eine 12(?)-Seiten-Geschichte. Sorry, spätestens beim Medienphilosophen (\“Das ist eine unheimlich schwierige Frage\“ oder \“zum Web fällt mir noch keine Strukturbeschreibung ein\“)bin ich eingeschlafen.
Der jeweilige Untertitel (Entblößt/Entblättern) stammt vermutlich nicht mal aus der Feder des Autors,sondern sollte nachträglich Pepp verleihen. Warum dann nicht gleich wieder eine schöne Nakte auf dem Cover? Die passen doch schließlich beim Spiegel für fast jedes Thema.

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Hannes Danner 21. Juli 2006 um 12:15

Schöne Kritik, ich möchte aber bestreiten, dass Themen wie Kinderschänder bei Myspace dem Artikel zu mehr Niveau oder Relevanz verholfen hätten.

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dico 30. Juli 2006 um 13:56

Die Entblößung dient nur als Vorwand um all jene neuen Internet-Idee auf Gummienten-Niveau hinabzuziehen, ständig ist alles \“bunt\“ oder \“chaotisch\“,Der Spiegel ist sich meiner Meinung nach durchaus bewusst, dass sich im Netz eine echte Konkurenz entwickelt, mit der die Printmedien in Vielfältigkeit, Schnelligkeit und Originalität nicht mithalten kann. Und was liegt da Näher, als \“die neue Internet-Idee auf Gummienten-Niveau hinabzuziehen\“? Sodas der OttonormalStammleser die Meinungen und Fakten im Web 2.0 nur belächelt und weiter auf die Meinungsmache der Printmedien reinfällt.

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Leif 30. Juli 2006 um 20:56

Das sind auch jene Leute, welche ich immer nach der Vorstellung große Kritiken schwingen höre. Da wird die nicht politische Aktualität eines \“Fletsch – Saturday Bite Fever\“ kommentiert. Oder Englisch! \“comment\“. Was im Spiegel allerdings nur als \“Link\“ auf das \“Comment-Tool\“ von MySpace verwendet wurde.

Wie dem auch sei. Man hat natürlich bedingt Recht wenn man behauptet Jesus Christ Superstar sei ein grauenhaftes Ballett.
Sieht man aber darauf, dass es gar kein Ballett ist, ist diese Erkenntnis gar nicht so schlimm.

Mir hat der Artikel viel gesagt. Hin und wieder ist es einfach schön nicht nach Dingen zu suchen, die man bemängeln könnte. Auch wenn man sich selbst dann noch intellektueller vorkommt.

Leif

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[…] von Thomas Schulz reiht sich mühelos ein in die technophoben Artikel der Vor-Büchner-Zeit, als Social Media für blöd, Leser mit angeblichen Fotos aus dem Internet getäuscht, Google dämonisiert wurde, das Netz […]

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